Kultur

Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied?

Je älter ich werde, desto kritischer schaue ich auf viele Dinge, an denen ich mich noch vor ein paar Jahren nicht gestoßen hätte. Nun habe ich seit einiger Zeit vermehrt Gespräche mit Gleichaltrigen – also Mitdreißigern – über Themen wie Lebensziele, Lebenskrisen, Erwartungen, den Sinn des Lebens. Teilweise aus Interesse, wie mein Gegenüber reagiert, teilweise aus aktuellem Anlass (z.B. vorübergehende Arbeitslosigkeit, Trennung vom Partner, erstes Kind).
Bei manchen dieser Gespräche läuft es mir eiskalt den Rücken hinunter. Ich bin entsetzt über die konservativen FDP-getränkten Einstellungen, die vertreten werden. Trotz Arbeitslosigkeit oder Beschäftigung in prekären Verhältnissen als Selbstbetroffene oder bekannt aus der eigenen Familie/Verwandtschaft, äußern diese Menschen Sätze à la „Wer will, findet auch Arbeit.“, „Wir haben trotz Sozialhilfe gut gelebt. Wir waren mit wenig zufrieden.“, oder eben das altbekannte Sprichtwort „Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied.“
Diese Gespräche haben mich teilweise derart aufgewühlt, aggressiv gemacht, so dass ich mich in der Literatur umgeschaut habe, die sich mit diesen Thesen auseinandergesetzt. Fündig bin ich u.a. bei einer mir aus dem belletristischen Bereich bekannten Autorin Herrad Schenk, die ein Buch mit dem Titel Glück und Schicksal – wie planbar ist unser Leben? geschrieben hat, aus dem ich im Folgenden einige – für mich – wichtige Passagen zitieren werde.

Unterteilt ist das Buch in die Teile Mythos der Machbarkeit und Macht des Schicksals.
Herrad Schenk beschreibt im ersten Teil den Wahn vieler Menschen, sie könnten alles erreichen, wenn sie denn nur wollten.

Während der Mythos der Machbarkeit in bezug auf die kollektiven menschlichen Leistungen inzwischen erschüttert oder zumindest angekratzt ist, lebt er im Bereich des persönlichen Lebens unvermindert weiter . […] Doch im persönlichen Bereich nähren viele Menschen noch immer die Illusion von der ständig aufsteigenden Lebensbahn, von einem unaufhörlichen Mehr und Höher und Größer. Hier ist der Mythos der Machbarkeit noch einigermaßen ungebrochen und treibt heute zum Teil die seltsamsten Blüten. (S.36)

Der Mythos der Machbarkeit treibe gleichzeitig die Suche nach dem Glück voran.

Wahrscheinlich ist das Glück noch nie so verzweifelt gesucht worden wie heute von den Menschen in der westlichen Welt, denen es, nach ihrem objektiven Lebensstandard beurteilt, weitaus besser geht als ihren Vorfahren oder ihren Zeitgenossen in ärmeren Regionen der Welt. Diese verzweifelte Glückssuche hängt mit dem Überfluß zusammen und mit dem Überdruß, der durch den Überfluß entsteht, mit der Befreiung von Arbeit, die zu Langeweile führt, und mit der gleichzeitigen Zunahme der Angst, daß das Wohlergehen vielleicht nicht von Dauer sein könnte. (S. 50-51)

Wenn alles machbar erscheint, fällt es schwer anzuerkennen, dass wir nicht auf alles Einfluss haben, so sehr wir uns dies auch wünschen mögen.

Wenn das Glück mit dem Lebenserfolg zusammenhängt, wenn es mit Reichtum und sozialem Aufstieg einhergeht, dann können wir bestimmt einiges – aber längst nicht alles – dafür tun. Das gleiche gilt für die Facetten des Glücks, die mit Wunscherfüllung oder der Beseitigung von Mangel zu tun haben. In gewissen Grenzen können wir etwas dafür tun, daß unerfreuliche Situationen sich ändern und hochbesetzte Wünsche sich erfüllen. Aber vieles kommt von außen und liegt nicht in unserer Hand, auch wenn wir uns noch so bemühen. (S. 52)

Vieles, was uns im Leben zustößt, ist zufällig in dem Sinne, daß wir es weder bewirkt haben noch beeinflussen können. Zwar haben wir eine gewisse Macht, unser Leben zu gestalten; dieser Macht sind aber innere und äußere Grenzen gesetzt. Für manche Menschen, in manchen historischen Situationen sind diese Grenzen enger, für andere sind sie weiter; der individuelle Gestaltungsspielraum, den wir haben, ist auch in unterschiedlichen Lebenssituationen sehr verschieden. (S. 107)

Ein sehr gutes Beispiel für die Beweggründe eines sozialen Abstiegs mit einer einhergehenden Hoffnungs- und Antriebslosigkeit, wie sie viele Menschen nicht nachvollziehen können, die selbst nicht betroffene sind oder diese Situationen aus ihrem näheren Umfeld kennen, wird auf den Seiten 87-88 genannt. Seit der Marienthal-Studie von Maria Jahoda aus den 1930er Jahren in Österreich weisen Menschen, die arbeitslos werden und/oder sozial abgleiten, noch immer ähnliche Verhaltensmuster auf. Die plötzlich zur Verfügung stehende Zeit wird nicht als Freiheit empfunden, sondern lähmt den Menschen in seinem Alltag.

[…] Aber bei uns? wird mancher einwenden. Heute, bei uns, kann doch jeder und jede, wenn sie nur arbeiten wollen, es auch zu etwas bringen, sich zumindest ein sorgenfreies Leben schaffen!
Doch was ist mit Otto aus dem Ruhrgebiet, der heute in einer Obdachlosen-Notunterkunft in Berlin lebt? Er hat dreißig Jahre lang gearbeitet, sogar eine beachtliche Karriere gemacht: „Otto hat sich von unten hochgearbeitet. Vom Malocher zum Politiker. Vom abgebrochenen Maurerlehrling zu einem, der das Betriebsverfassungsgesetz auswendig konnte. Vertrauensmann, Betriebsrat, Parteilaufbahn, Stadtrat. Eine Ruhrgebietskarriere aus dem Bilderbuch des Wirtschaftswunders. Ein Beweis dafür, daß jeder es schaffen kann. Jeder ist seines Glückes Schmied, Meister seines eigenen Schicksals.“ Sein Leben war ein Erfolg, bis das Zweigwerk der BASF in Castrop-Rauxel, bei dem Otto seit 30 Jahren arbeitete, die Produktion einstellte und er mit 1200 anderen Mitarbeitern entlassen wurde. Er bemühte sich um eine neue Arbeit, aber das war mit 48 Jahren und seiner Vergangenheit als engagierter Betriebsrat aussichtslos. Otto konnte die Raten für die Eigentumswohnung nicht mehr zahlen, der Schuldenberg wuchs, die Wohnung wurde zwangsversteigert; er begann zu trinken, wurde schwer krank. Eine Abwärtsspirale kam in Gang, die auf der Straße, im Obdachlosenheim endete.
Das Leben von Otto steht als ein Beispiel für die zahlreichen Biographien von Arbeitslosen, deren Erwerbsleben ohne ihr eigenes Dazutun durch Firmenpleiten jäh beendet wurde. Nicht immer findet sich mit gutem Willen etwas anderes, auch wenn die Betroffenen arbeitswillig sind. Es gibt strukturschwache Gebiete, und der Strukturwandel in der ostdeutschen Wirtschaft hat Hunderttausenden den Arbeitsplatz gekostet. Gewiß, bei uns verhungert man nicht wie in der Dritten Welt. Es gibt, auch wenn man ganz unten ist, noch immer das soziale Netz, das dieses Äußerste verhindert. Doch viele Menschen, die einen sozialen Absturz wie Otto erleben, zerstören sich über kurz oder lang selbst, weil sie nicht verstehen, warum so etwas trotz gutem Willen und harter Arbeit, mit ihrem Leben geschehen ist. (S. 87-88)

Die Autorin beschreibt ebenfalls sehr anschaulich, dass der hohe Machbarkeitsanspruch auch Auswirkungen auf die Einstellung von Menschen auf ihre Gesundheit haben kann. Sie schrieben entsprechend Leuten, die erkranken eine gewisses Maß an Selbstverschuldung zu.

[…] Jedenfalls hat in den letzten Jahrzehnten die Zahl der Menschen zugenommen, die glauben, daß viele, wenn gar alle Krankheiten aufgrund einer falschen Lebensweise, eines „ungesunden Leben“ entstehen. Ungesundes Leben meint eine „falsche Ernährung“, außerdem „zu wenig Sport und Bewegung“. Auch psychologische und esoterische Erklärungen für die Entstehung für Krankheiten erfreuen sich einer großen Beliebtheit. Wer an die psychogene Entstehung von Krankheiten glaubt, geht davon aus, daß sie das Ergebnis ungelöster psychischer Konflikte sind. Man bekommt Krebs, weil man eine „Krebspersönlichkeit“ hat, man erleidet einen Herzinfarkt, weil man ein Workaholic ist, man erkrankt an Rheuma, weil man seine Aggressionen unterdrückt hat. […] Krank wird demnach nur, wer nicht mit sich im Einklang ist. (S. 135-136)

Wir glauben heute tiefinnerlich an unser Recht auf Gesundheit wie an unser Recht auf Glück – vor allem dann, wenn wir tendenziell gesund leben und somit alles „richtig machen“. Manche verkünden es stolz wie eine persönliche Leistung, wenn sie über längere Zeit nicht krank waren. Erkrankt jemand in der Umgebung, erleidet er oder sie zum Beispiel einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall, ist die erste Frage: Was hat der Betreffende falsch gemacht? Für uns selber akzeptieren wir vielleicht noch die jährlich wiederkehrende Erkältung. Erkranken wir aber ernsthaft, empfinden wir große Irritation. (S. 137)

Auch mit dem Glauben, mit einem sportreichen Leben übe man Einfluss aus und verlängere dieses wohlmöglich, wird aufgeräumt.

Wer Sport treibt, tut etwas für seine Gesundheit – diese Überzeugung ist heute allgemein verbreitet, sie wird von Sportlichen wie von Unsportlichen geteilt. Fitneß, Beweglichkeit, Kraft und Ausdauer werden mit Gesundheit gleichgesetzt. Der schlanke, durchtrainierte Körper, ohne überflüssige Fettpolster, muskolös an den richtigen Stellen, entspricht unserem Ideal von Gesundheit, Jugendlichkeit und Schönheit. Winston Churchills Maxime „no sports“ als Mittel, ein rüstiges hohes Lebensalter zu erreichen, ist gründlich unmodern geworden. […] Als Ergebnisse gelten in der Sportmedizin folgende Ergebnisse: Regelmäßiges Trainieren bewirkt eine Ökonomisierung der Herzarbeit durch die Erhöhung des Schlagvolumens. Es führt dazu, daß das Atemsystem eine größere funktionelle Breite erreicht. Es intensiviert die Stoffwechselvorgänge und erhöht die Fähigkeit zur Bereitsstellung von Energie aus aerobem und anaerobem Stoffwechsel. Sehnen, Bänder und Knochen werdne durch regelmäßiges sportliches Training zug- und biegefester. Das aktive Bewegungssystem nimmt an Kraft zu. Die neuromotorischen Funktionen werden besser koordiniert und damit effektiver.
Darüber hinaus weiß man, daß regelmäßiger Sport einen positiven Einfluß auf das Wohlbefinden, eine deutlich spürbare antidepressive Wirkung hat – auch, wenn man dies nicht genau erklären kann. Indirekt trägt das Trainieren auch dazu bei, daß man weniger raucht und trinkt. […] Dennoch ist es außerordentlich schwierig, die krankheitsvorbeugenden Wirkungen des Sports eindeutig nachzuweisen. […] Der amerikanische Herzspezialist Henry A. Solomon warnt in seinem Buch „Der Fitness-Wahn“ vor der modischen Ideologie einer „übertriebenen Körperertüchtigung“ und leugnet rundheraus, daß körperliche Anstrengung zu Gesundheit und Langlebigkeit führt. „Körpertraining mag Ihnen Spaß machen; es kann Ihnen gesellschaftlich weiterhelfen; es kann dazu beitragen, daß sie besser aussehen und sich besser fühlen. Aber alles übrige ist reiner Mythos. Training macht sie nicht gesund. Es wird ihr Leben nicht verlängern. Fitneß und Gesundheit sind nicht dasselbe.“ (S. 143-146)

Was uns heute fehlt ist, ganz banal, die Anerkennung der Tatsache, daß Krankheit und Tod notwendiger Bestandteil des Lebens sind. Man wird krank, weil es eine Eigenschaft alles Lebendigen, alles Organischen ist, krank werden zu können. Man stirbt, weil weil der Tod als Keim von Anfang an in allem Lebenden enthalten ist. Montaigne bringt das treffend zum Ausdruck, wenn er sagt: Du stirbst nicht, weil du krank bist, du stirbst, weil du lebst. (S. 150)

Herrad Schenk nennt es an dieser Stelle nicht explizit, beschreibt jedoch gut, wie vereinfachendes Denken zu falschen kausalen Schlüssen führen kann, wie dies in der Alternativmedizin oft anzutreffen ist (vermeintliche Wirkung von Globuli).

Wir sind es so gewohnt, ständig in vereinfachenden Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen zu denken, daß wir auch da noch auf sie zurückgreifen und uns an ihnen festbeißen, wo das Aufdecken äußerer Ursachen eigentlich völlig irrelevant ist, weil es keinerlei Hilfe bei der Bewältigung eines schrecklichen Geschehens bietet. Statt dessen brauchten wir ein Weltverständnis, das uns hilft, Geschehenes zu akzeptieren, einfach weil es geschehen ist, und es fruchtbar in unser weiteres Leben zu integrieren. (S. 153)

Die verschiedenen spektakulären Heilerfolge bei esoterisch aufgerichteten PatientInnen können sich im einzelnen durchaus so abgespielt haben, wie sie uns geschildert werden. Nur hat das keinerlei Beweiskraft. Wenn ein Mensch an seinem Krebs stirbt, heißt das nicht, daß er sich falsch hat behandeln lassen oder die falsche seelische Einstellung hatte – er wäre vielleicht auch bei einer anderen Behandlung und mit einer anderen Einstellung gestorben, vielleicht eher, vielleicht später. Wir wissen es nicht. (S. 193)

Neben esoterisch angehauchten werden auch religiös motivierte Menschen beim Lesen des Buches so manches Mal schlucken müssen – finden sie doch wenig tröstende Worte ob der Beeinflussung ihres Schicksals.

Wer im alten Sinne religiös ist, mag glauben, Gott, die Vorhersehung oder das Schicksal sende uns Gutes und Böses, zur Belohnung, zur Strafe, als Prüfung, als eine zu entschlüsselnde Botschaft. Wer dieser Form von Religiösität entwachsen ist, wird den Gedanken aushalten müssen, daß viele Dinge einfach so sind, wie sie sind, daß sie ohne vorherbestimmten tieferen Sinn geschehen und sich deswegen meinem Warum entziehen. Nur wer das nicht aushält, flüchtet sich in den größenwahnsinnigen Gedanken, die Menschen könnten alles Geschehen bewußt oder unbewußt lenken. […]  Wir schreiben am Drehbuch unseres Lebens selbst mit, aber es gibt viele Co-Autoren, menschliche und nichtmenschliche Einflüsse. Manchmal bestimmen sie die Handlung unseres Lebensskripts stärker als wir selber; sie pfuschen uns dazwischen, schreiben ganze Szenen um, werfen Akte heraus, streichen Rollen und Charaktere, an denen wir sehr hingen, und fügen andere, unliebsame, ein; zu guter Letzt geben sie dem Ganzen vielleicht noch einen völlig anderen Schluß, als wir ihn wünschten. Doch selbst wenn wir unsere Rolle nicht allein bestimmen können, so können wir sie dennoch auf unsere ganz persönliche Art spielen. „Das Schicksal mischt die Karten, und wir spielen“, sagt Schopenhauer in seinen Aphorismen. (S. 224-225)

 

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